Von Artur Lebedew
Weil er Deutscher ist, kommt Andrej Spomer im Zweiten Weltkrieg in ein sibirisches Arbeitslager. Hier löffelt er dünne Suppen und schindet sich, um am Leben zu bleiben. Wie lebt jemand mit Erinnerungen, die er wie Narben in sich trägt?
Ostrach – Elf Jahre schindet Andrej Spomer seinen Körper im sibirischen Arbeitslager. Angst und Hunger sind seine täglichen Begleiter. Wenn im Frühling der Schnee taut, sieht er Leichen aus der Erde hervorlugen. Wenn der Winter kommt, bindet er Decken um seine Beine, damit er nicht erfriert. Er erduldet Hass, Spott und vergisst auch schon mal die Hoffnung, lebend dem Lager zu entrinnen. Es sind diese Erinnerungen, die Andrej Spomer bis ins Greisenalter begleiten.
Der Vorsteher Dubrowski ist wieder besoffen. Kaum bin ich von der Arbeit zurück, steht er in der Baracke und brüllt, beleidigt wie ein Berserker die, die ihre Tagesmenge an Arbeit nicht erfüllt haben. Wutentbrannt schmeißt er die Kartoffelknollen aus dem Fenster. Gleich werden wir sie wie hungrige Wölfe in der Dunkelheit wieder aufsuchen. Einen anderen Deutschen, einen früheren Leutnant der sowjetischen Armee, prügelt er wegen einer Arbeitspause und sperrt ihn für zehn Tage weg. Niemand sieht ihn wieder.
Man muss sich Andrej Spomer, den heute 92-Jährigen, als einen fröhlichen Menschen vorstellen. Als jemanden, dessen Lachen tief aus der Brust kommt und wie ein Rütteln den ganzen Raum ergreift. Vor seinem Haus in Ostrach bei Sigmaringen reihen sich Einfamilienhäuser. Im Garten drehen sich die Rotoren einer kleinen Windmühle, eine Holzbrücke spannt sich über den Teich.
Im Haus steht ein Rollator, Familienbilder hängen an der Wand. Auf einem sieht man einen Jugendlichen mit großen Ohren und ernsten Augen. Mutter und Vater tragen feine Kleider. Das Mädchen hat eine Stoffpuppe in der Hand. Damals weiß Andrej noch nicht, dass sich seine Welt bald in Trümmer auflöst. 80 Jahre später sitzt er auf seinem flauschigen, braunen Sofa und erzählt seine Geschichte.
Ich bin zwölf Jahre alt und spiele auf einer Trommel im Dorforchester. Die Bewohner haben sich zu einem Fest versammelt und hören unseren Militärmarsch. Es sind deutsche Melodien. Alle in unserem Dorf sind Deutsche: Lehrer, Schmiede, Bauern. Die Stöcke in meinen Händen prasseln wie Regen auf die gespannte Haut des Schnarrteppichs. Gerade habe ich nach sieben Klassen die Schule geschmissen, weil ich kein Russisch spreche. Wo werde ich arbeiten, wo leben, wen heiraten?
In Andrejs Kindheit lebt seine Familie in dem deutschen Dorf „Karl Liebknecht“ in Kasachstan. Die Menschen dort sind Nachkommen derjenigen, die sich Ende des 18. Jahrhunderts aus Baden, Sachsen oder Preußen in den Osten begeben haben, um sich ein besseres Leben aufzubauen. Sie sind stolz auf das Erreichte. Es gibt Vieh, genug zu essen, drei Automobile für die Landwirtschaft.
Andrej ist 15, da überfallen die Nazis die Sowjetunion. Ein Jahr später holen Soldaten der Roten Armee seinen Vater und schicken ihn in die „Trudarmija“. Ein Euphemismus aus den Begriffen Armee und einem nur schwer zu übersetzenden russischen Wort für Arbeit und Mühe. Die Trudarmija ist nach den Regeln des Gulags, des berüchtigten Arbeitslagers für politische Gefangene, konzipiert und für Minderheiten errichtet, die die Sowjets während des Krieges der Spionage bezichtigen: Finnen, Italiener und vor allem Deutsche.
Es sind verheerende Kriegsjahre für das junge Land. Der Hunger tobt, Soldaten sterben wie Ungeziefer. Familie Spomer erreicht die Nachricht, dass der Vater tot ist. Kurz darauf muss auch der 17-jährige Andrej in die Trudarmija. Seine Mutter packt ihm Kleider, Essen, Papiere zusammen. Soldaten pferchen die Männer und Frauen in Bahnwaggons. Als Grund genügt, dass sie Deutsche sind. Andrej hofft, bald zurückzukehren.
16 Tage dauert die Reise nach Sibirien. 2000 Kilometer. Der Zug passiert Wälder und Täler, bevor er dort zum Stehen kommt, wo die Gleise nicht mehr weiterlaufen. Von da marschieren die Insassen durch die Taiga. Vor den Holzbaracken, die sich hinter dem Zaun aufreihen, machen sie halt.
Überall stehen Wachen, die uns nicht aus den Augen lassen. Wir bauen Eisenbahnschienen. Unsere Brigade ist in vier Waldfelder unterteilt. In jedem Feld sind ein Meister, der die Arbeit delegiert, und 50 kräftige Burschen. Zu zweit hieven wir Stämme auf die Schultern und schaffen sie in die Waggons. Einen Moment bin ich unaufmerksam, und der Stamm knallt auf meine Hand, zerschmettert die Knochen. Ich will schreien vor Schmerz, halte mich aber zurück. Ärzte gibt es keine. Ein alter Russe prüft, ob ich Fieber hab, schickt mich wieder in den Wald.
Eine Wölbung groß wie ein Tischtennisball ist noch heute auf Andrej Spomers Hand erkennbar. Der Zeigefinger ist angewinkelt, der Mittelfinger ist steif. Wenn Andrej in seinem Haus in Ostrach erzählt, schlägt er mit der unförmigen Faust immer wieder leise auf den Tisch, als wollte er jedes Detail festnageln.
Seine Stimme ist laut, der Bass auch im hohen Alter durchdringend. Wenn er erzählt, dass einmal neben ihm ein Tank explodierte und das Feuer ihm das Ohrläppchen wegriss, lacht er. So fröhlich und ansteckend, wie Menschen über unanständige Witze lachen.
Fragen, worüber er mit anderen abends redete, lacht er weg und verweist auf den Hunger, den sie nach einer dünnen Kartoffelsuppe verspürten. Er lacht darüber, dass er mal aus Verzweiflung seine Geburtsurkunde rauchte. Und über Vorsteher, die Spaß daran hatten, Menschen an den Rand des Wahnsinns zu treiben.
Ein Pferd zieht den Karren, auf dem ich das Holz stapele. Der Waldboden ist tief, das Pferd bockt. Da schlage ich es mit einem Zweig und zerre es vorwärts. Ein Aufseher sieht das und meldet es dem Kommandanten. Am Abend ruft mich dieser zu sich. Er hat einen Brief und wedelt damit vor meinen Augen. „Deine Mutter schreibt so nette Sachen, und du machst nur Quatsch“, sagt er. Warum ich das Pferd schlage? Ich versuche zu erklären. Aber er hört nicht und sagt, dass ich nach dem Essen fünf Tage in den Karzer muss. Ich falle zu Boden, flehe ihn an, schluchze, bettle. Ich bin noch ein Kind, winsele ich, ich habe noch nie im Leben gearbeitet. Ich werde es nie wieder machen, nie. Da lacht er und schickt mich fort. Kreidebleich, doch dem Karzer entkommen, gehe ich zurück in die Baracke und lese den Brief.
Alexander Solschenizyn, der große russische Schriftsteller und Verfasser von „Archipel Gulag“, schrieb, dass nach dem Karzer die Zelle einem wie ein Schlossgemach erscheint. Die häufig nur mannsgroße Einbuchtung, eiskalt, ohne Fenster und so klein, dass man sich darin nicht ausstrecken kann, ist die Versinnbildlichung des sowjetischen Terrors, der Menschen körperlich und seelisch zerreibt.
Auch die Geschichte vom Karzer erzählt Andrej Spomer mit einem
Lächeln. Man wird nicht schlau aus diesem Lachen, das so gar nicht zu den grausamen Schicksalshieben passen will. Spomer findet, dass dabei nichts Besonderes sei. Was ihm passierte, das passierte damals Millionen anderen auch. Die Trudarmija gehört einfach zu seinem Leben.
Am Tag, als der Krieg vorbeigeht, pfeifen die Züge und Fabriken. Sie tosen und tönen und finden kein Ende. Ich spüre, wie warm mir wird. Kurz darauf fahren Pferdekarren mit Arbeitern aus dem Wald. Den restlichen Tag bekommen wir frei. Ich lache, spüre, wie sich in mir die Hoffnung breitmacht. Ich denke: Vielleicht noch ein Jahr, dann gehe ich zurück nach Hause. Noch ein bisschen, und ich gehe hier weg. Aber der Tag kommt nicht, es werden noch weitere neun Jahre.
Nach dem Krieg werden die grotesken Arbeits- und Lebensbedingungen gelockert. Die Lager bleiben aber gigantische Freiluftgefängnisse. Erst 1955 werden die Trudarmija für die nationalen Minderheiten aufgelöst. Laut Schätzungen sind 400 000 Männer und Frauen in die Arbeitslager deportiert worden, Zigtausende fanden dort den Tod.
Andrej Spomer verliebt sich im Arbeitslager in eine Frau. Zum Tag der Unterschrift, die die Ehe bedeutet, kauft er sich eine neue Hose. Drei Kinder kommen zur Welt, bevor die Familie mit der Erlaubnis des Lagervorstehers 1954 Sibirien und die Trudarmija verlässt.
Ich kehre in mein Dorf zurück. Von Weitem erblicke ich die alten Lehmhütten. Angekommen, erkenne ich fast nichts wieder. Der jüngste Bruder, als ich ging, war er noch ein Bub, ist jetzt Mechaniker in der Kolchose. Die Nachbarn sind tot. Die Gesichter auf der Straße fremd. Die deutsche Sprache so ungewohnt wie eine Jacke, die schlecht sitzt. Mutter weint vor Glück. Meine Frau, im vierten Monat schwanger, heult, weil sie die Deutschen nicht versteht. Ich weiß nicht, was ich tun soll, finde nicht meinen Platz.
Andrej Spomer spricht heute von einem guten Leben, das er hatte, einem normalen Leben. Er bleibt nicht in dem Dorf, in dem er aufwuchs. Es ist nicht mehr sein Dorf. Mit Frau und Kindern geht er nach Kirgisistan. Er arbeitet auf Getreidefeldern, fährt auf dem Traktor, repariert Maschinen. Im Garten wachsen Äpfel und Kartoffeln. Zum Geburtstag essen sie Schaschlik mit Tomatensoße.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zieht die Familie im Jahr 1995 nach Deutschland. Der Rentner Andrej Spomer schnitzt Holzspielzeug für seine Enkel. Einen Zug mit Eisenbahnwaggons hat er auf das Fensterbrett gestellt. Wenn er heute könnte, sagt Andrej Spomer, würde er gerne den Ort der Trudarmija in der Taiga noch einmal besuchen. Im Fernsehen hat er gesehen, wie das jemand gemacht hat.
Erschienen in der Stuttgarter Zeitung