Ethnisches Unternehmertum Migranten wagen die Selbständigkeit
Das russische Reisebüro, der indische Gemischtwarenhändler: In Deutschland leben ganze Wirtschaftszweige von Zuwanderern.
Diese Nationen wollen nach Deutschland
Wenn Taisia Wilhelm für ihr Reisebüro Werbung macht, geht das so: Sie holt sich eine Tasse schwarzen Tee, setzt sich vor ihren Computer und drückt immer wieder „Freundschaftsanfrage senden“. Mehr als 600 Menschen haben bei „odnaklasniki.ru“, dem russischen Pendant zu Facebook, ihre Freundschaftsanfrage in den vergangenen drei Monaten angenommen. Taisia Wilhelms Reisebüro sitzt in Düsseldorf, trotzdem sprechen fast alle ihre Kunden russisch.
In Deutschland leben etwa 20 Millionen Menschen mit einem ausländischen Hintergrund. Etwa zehn Millionen von ihnen sind im Ausland geboren, gingen dort zur Schule, arbeiteten in Fabriken und Büros und gingen alle paar Tage einkaufen. Als sie dann nach Deutschland auswanderten, brachten sie ihre Gewohnheiten und Geschmäcker mit. Hier verkaufen ihnen ehemalige Landsleute Nahrungsmittel, Zeitungen und andere Waren aus der Heimat. Als „Ethnic-Business“ bezeichnen Experten das Phänomen, wenn Migranten mit Migranten ins Geschäft kommen.
Das Land macht es den Flüchtlingen schwer: Kommunen klagen vor hohen Kosten, zudem dürften Asylbewerber nicht arbeiten. Dabei braucht Deutschland frische Ideen.
„Viele Russen leben in Deutschland so, als hätten sie Russland nie verlassen“, sagt Taisia Wilhelm, den Rücken durchgedrückt, den Kopf gerade. Die 65-Jährige hat den größten Teil ihres Lebens als Tänzerin und Galeristin verbracht, 1989 war sie aus Russland nach Deutschland geflohen. Als sie sah, dass immer mehr Deutschrussen kamen, gründete sie 1995 ihr Reisebüro in Düsseldorf. Mittlerweile gibt es Filialen auch in Stuttgart, Köln und Frankfurt. Rund 1000 Touristen pro Woche bringt „Viktoria Reisen“ im Sommer mit dem Bus nach Paris, Madrid oder Rom. Warum reisen sie nicht mit deutschen Reisebüros? „Es ist ein kultureller Unterschied“, sagt Wilhelm. Die Russen müssten an die Hand genommen, alles müsse ihnen gezeigt werden. „Sie sind hier unter ihresgleichen. Hier stellen sie auch Fragen; das würden sie sich unter Deutschen nicht trauen.“
Für Deutschland sind Unternehmer wie Taisia Wilhelm mittlerweile ein wichtiger Wirtschaftsfaktor: Fast jeder fünfte Unternehmensgründer in Deutschland hat einen Migrationshintergrund. 2012 waren es nach Zahlen der KfW-Bankengruppe 147.000 Menschen. Türkische Migranten bilden dabei die größte Gründergruppe und stellen jeden vierten ausländischen Neuunternehmer; fast jeder zehnte kommt aus Russland. Wer davon ethnische Nischengeschäfte betreibt und wer etwa einen Friseurladen oder eine IT-Firma unterhält, ist schwer zu ermitteln. Geschäftsgründungen sind jedenfalls für viele Migranten ein Weg, um sich in Deutschland eine selbstständige Existenz zu verschaffen – und mit Menschen aus der Heimat in Kontakt zu bleiben.
In Sukhjider Singhs Gemischtwarenladen riecht es nach fremder Welt, nach Curry, Koriander und Räucherstäbchen. Singh hat die Erinnerungen an seine Heimat zu seinem Geschäft gemacht: In den Regalen reihen sich 20-Kilo-Reissäcke an Bollywood-Filme auf Videokassetten, Glitzerkosmetik und Götterstatuen. Sukhjider Singh sitzt an der Kasse. Der 36-Jährige mit dem langen, grau melierten Bart trägt einen Turban. Den Laden hat er vor fast 16 Jahren von einem Bekannten übernommen, seine ganze Familie hilft heute mit.
Erschwert Ethnic-Business, dass Zuwanderer sich integrieren? Der Soziologe George Simmel schrieb schon vor etwa 100 Jahren einen viel zitierten Aufsatz über Migranten und jüdische Händler als die „Fremden“. Der Fremde sei kein Wanderer, der heute kommt und morgen geht, schrieb Simmel, sondern einer, „der heute kommt und morgen bleibt“. Simmel zufolge bleiben ethnische Gruppen der Mehrheit einer Gesellschaft außen vor.
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Der Wirtschaftssoziologe Ludger Pries sieht hinter solchen Analysen ein veraltetes Bild von Migration: „Wir müssen die Vorstellung von einer völlig homogenen Gesellschaft aufgeben“, sagt er. Die Menschen ziehe es dorthin, wo sie sich Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe erhoffen. Und das falle leichter, wenn es dort Menschen gibt, die ihnen kulturell nahestehen. Für viele Zuwanderer ist ethnisches Unternehmertum ein wichtiger Faktor, um in einer fremden Kultur anzukommen. Und oft entwickelten sich daraus Geschäfte, die Dienstleistungen für alle anbieten.
Sukhjider Singhs Kundschaft ist so bunt gemischt wie seine Produktauswahl: Inder, Pakistani, Iraner und Afrikaner wandern in den schmalen Gängen zwischen den Regalen umher. Fast die Hälfte seiner Kunden seien mittlerweile Deutsche, sagt Singh. Viele von ihnen seien Hobbyköche oder Indienfans, aber auch Sparfüchse, die wissen, dass Gewürze im „Asien Basar“ um einiges günstiger sind als im Supermarkt.
Im ehemaligen Kölner Griechenmarktviertel ist der Gemischtwarenladen einer von zahlreichen indischen Geschäften. Gleich nebenan verkauft und näht eine Familie Saris. Die Gegend wird heute „Inderviertel“ genannt, auch wenn hier kaum Inder wohnen – „zu teuer“, sagt Singh, der mit seiner Familie auf der anderen Rheinseite wohnt. Aber auch wenn die meisten asiatischen Zuwanderer hier nicht wohnen, das Inderviertel hat ihnen einen Job gegeben, in ihren eigenen Unternehmen – und auch eine Heimat.
Erschienen in der Wirtschaftswoche