Reportage: Der Klickarbeiter aus dem Netz

Von Artur Lebedew
Für Unternehmen wie Testbirds suchen Menschen nach Fehlern auf Internetseiten oder fotografieren Produkte in Supermarktregalen. Einfache Tätigkeiten mit geringem Verdienst. Ist das die Zukunft?

Karlsruhe – Wenn Pascal Saugy Geld verdienen will, muss er nicht einmal seine Karlsruher Wohnung verlassen. Alles, was er braucht, ist ein Computer und eine Internetverbindung. Bei Testbirds, einer Jobplattform im Internet, ist er Premiumtester. Den Status hat er, weil er bereits 448 Aufträge erfüllt hat. Als Premiumtester bekommt Pascal die besser bezahlten Jobs. Die kommen per Mail, manche per Pushnachricht auf sein Handy. Heute steht da: „Bugtest einer großen Tageszeitung“.

Pascal Saugy drückt den Rücken durch, sein drahtiger Körper schmiegt sich an die Rückenlehne des Bürosessels. Im Raum ist es dunkel, die Jalousien hat er heruntergelassen. Er blickt auf die beiden Bildschirme vor ihm. Das Glas Leitungswasser schiebt er beiseite. Die Augenlider sind entspannt. Die Ellbogen legt er auf die Stuhllehne. Dann geht es los.

Mit schnellen Bewegungen jagt der Mauszeiger über die Bildschirme. Klick auf das Impressum. Buchstabendreher im vierten Absatz: Fehler, also Bug Nummer eins. Hieroglyphen ins Passwortfeld eingetippt, funktioniert nicht: Bug zwei. Bug drei und vier findet Pascal auf der Seite mit dem Warenkorb. 20 Minuten vergehen. Pascal notiert in der Maske die Fehler, den Bericht schickt er gleich zu Testbirds. 3000 Zeichen, eine DIN-A4-Seite, rattert er wie ein Funkschreiber herunter. Überlegen muss er dabei nicht. Jeden Satz hat er so schon einmal geschrieben, die gängigen Fehler schon mal irgendwo auf einer anderen Seite entdeckt. Es ist keine Fließbandarbeit, eher ein Knobelspiel, sagt Pascal. Er klickt auf „Senden“. In einer Stunde hat er 15 Euro verdient. „Allemal besser als Zeitungen austragen“, sagt er.
Eine anonyme Schar von Menschen

Etwa eine Million Menschen in Deutschland sind auf Internetseiten wie Testbirds, Streetspotter oder Mechanical Turk angemeldet. Die Zahl derer, die dort tatsächlich Geld verdienen, liegt einer Studie aus dem vergangenen Jahr zufolge bei 250 000 Nutzern. Klar ist aber: Es werden mehr. In naher Zukunft werden 20 Prozent aller Tätigkeiten über Plattformen im Netz verrichtet, schätzt die Europäische Union.

Schon heute ist die Entwicklung absehbar. Die Pizza bringen Fahrradkuriere von Lieferando. Das Taxi bewegen Fahrer von Uber. Das Ferienzimmer stellen Privatpersonen über Airbnb. Was früher Angestellte in Unternehmen besorgten, erledigt heute die Crowd. Eine anonyme Schar von Menschen, die weder ein Büro noch eine Werkstatt brauchen. Auf Internetseiten stellen sie ihre Leistung zur Verfügung und werden für das bezahlt, was sie auch erledigen. Die Zukunft der Arbeit – sie könnte so ­aussehen wie die Arbeit des Karlsruher Crowdarbeiters Pascal Saugy.

Mit dem Fahrrad flitzt der 28-Jährige zum Penny an der Ecke. Ein Typ, der bummelt, ist Pascal nicht. Er fährt schnell, hält sich aber an die Regeln. Familienhäuser mit Vorgärten ziehen am Straßenrand vorüber. Sein Gesicht ist schmal und hoch, die Stirn weit, am Kinn ist ein Grübchen. Das Haar ist wie nach hinten geföhnt. Etwas zwischen modisch und praktisch. In seinen Lederflipflops, dem Polohemd und der kurzen Hose sieht er aus wie ein Banker im Urlaub.

Vor dem Einkaufsladen steigt Pascal vom Rad. Mit kurzen, schnellen Schritten tippelt er in den Supermarkt. Er zückt das Handy, ruft die App Streetspotr auf und schießt einige Fotos vor dem Regal mit den Handykarten: eins vom Gang, eins vom oberen, eins vom unteren Teil der Verkaufswand. Er schlängelt sich an Einkaufswägen vor der Kasse vorbei und verlässt den Laden. Für fünf Minuten Arbeit bekommt Pascal von Streetspotr zwei Euro gutgeschrieben. Dann radelt er weiter.
Mechanical Turk ist die Mutter aller Crowdwork-Seiten

Alle vorhandenen Jobs zeigt eine Smartphone-App auf der Karte. Wahlweise nach Entfernung und Verdienst geordnet. Zu Hause hat Pascal alle Aufträge angenommen, die er auf seiner Fahrradtour heute erledigen will. So spart er Zeit und muss die Wege nicht zweimal fahren.

Als Student hat Pascal zum ersten Mal über Plattformen gelesen, auf denen jeder mit kleinen Arbeiten Geld verdienen kann. Das war im Jahr 2012. Damals hatte Amazons Mechanical Turk, die Mutter aller Crowdwork-Seiten, bereits fast eine Million Nutzer, die meisten in Indien und den USA. Andere Plattformen zogen nach, darunter auch viele in Deutschland. Unternehmen wie Daimler, die „Bild“-Zeitung oder Tomtom hatten erkannt, dass sie viele der einfachen Aufgaben billiger erledigen, wenn sie diese nicht an die eigenen Mitarbeiter delegieren, sondern in Häppchen an den Internetschwarm verteilen. Eine Vielzahl von Helfern übersetzt seither Textfetzen, programmiert Anwendungen, wertet Bilder aus oder schießt wie Pascal Fotos von Supermarktregalen.

Bei der heutigen Tour fragt Pascal in einer Apotheke in der Innenstadt den Verkäufer nach einem Medikament. Dieser verneint. Pascal notiert es auf der Plattform, schickt zum Beweis das Foto vom Kassenzettel mit gekauftem Traubenzucker. Verdienst: acht Euro. Im Edeka sucht er vergeblich eine Milchmarke. Er fotografiert das Milchregal, kommentiert: „Marke nicht vorhanden“ und fährt weiter. Gewinn: zwei Euro.

Nicht immer kennt Pascal den Grund von Aufträgen. Weder die Plattformen noch die Unternehmen erklären, warum sie die Hilfe der Arbeiter aus der Crowd benötigen. „Manchmal ist es offensichtlich“, sagt er. Wenn er früher zum Beispiel an Tankstellen Alkohol kaufen sollte, wollten die Betreiber ihre Mitarbeiter kontrollieren und Strafen verhindern, weil die Verkäufer junge Kunden nicht nach dem Ausweis fragen. Wenn aber bei Amazon Turk Bilder danach zugeordnet werden sollen, ob sie jugendfrei sind oder nicht, erschließt sich nicht jedem der Zweck.
Davon leben können in Deutschland die wenigsten

Für Unternehmen ist dieses Modell lukrativ. Sie müssen die Leute nicht fest anstellen, zahlen keine Sozialversicherungsbeiträge. Crowdarbeiter sind Selbstständige, die als virtuelle Tagelöhner in die eigene Tasche wirtschaften. Sie selbst entscheiden, welchen Job sie erledigen. Wann sie dafür Zeit haben. Auch der Standort ist für die meisten Aufträge egal. „Hauptsache, der Job wird erledigt“, sagt Pascal. Er kennt Leute, die als digitale Nomaden um die Welt jetten und auf Plattformen ihren Unterhalt verdienen.

Nach dem Auftrag im Müller-Markt ist Pascal mit seiner heutigen Tour am Ende. In drei Stunden und acht Aufträgen hat er 31 Euro verdient. Das sind knapp zehn Euro in der Stunde. Steuerfrei. Keine schlechte Bezahlung für einige Fotos an der frischen Luft. In der App drückt Pascal auf „Auszahlen“, binnen weniger Tage überweist die Firma das Geld auf sein Konto.

Davon leben kann er trotzdem nicht. Das können in Deutschland die wenigsten. An vielen Tagen gibt es nur eine Handvoll Aufträge. Oder es sind Jobs, die so gering bezahlt sind, dass selbst Studenten überlegen würden, ob sich der Aufwand lohnt.

Auf Internetforen beschweren sich Klickarbeiter, dass Aufträge unverständlich formuliert oder nicht bezahlt werden, weil es zum Beispiel einen Supermarkt gar nicht mehr gibt, die App einen fälschlicherweise trotzdem dahin schickt. Als Selbstständige haften die meisten für ihre Ausrüstung. Mit Fahrrad, Computer oder Handy gehen sie in Vorleistung. Notwendige Reparaturen werden nicht bezahlt.
Junge Menschen wollen mehr über ihre Zeit bestimmen

Trotzdem wird Crowd­arbeit immer attraktiver. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich der Lebensentwurf vieler Menschen verändert. Seit Längerem konstatieren Arbeitsexperten die Zunahme von selbstständiger Arbeit. Besonders Junge wollen mehr über ihre Zeit bestimmen, nicht von hierarchischen Unternehmensstrukturen abhängig sein. Plattformen könnten da ein Weg sein, Arbeitssuchende und die Anbieter von flexibler Arbeit zusammenzuführen. Wie Freiheit und Absicherung allerdings abgestimmt sein müssen, darüber streiten Gewerkschaften und Firmen.

In Pascals Wohnung in einem Mehrfamilienhaus am Rande des Oberwaldes im Süden der Stadt liegen Spielzeug und Babystrampler auf dem Boden. An der Wand hängt eine Tafel mit dem Spruch: „Zuhause, das sind Familie und Freunde.“ Vor Kurzem ist Pascal Vater geworden, im Wohnzimmer wiegt seine Frau den Neugeborenen in den Schlaf. „Es ist faszinierend, wie schnell der Kleine wächst“, sagt Pascal. Er will jeden Tag mit seinem Sohn verbringen. Gelegenheit dazu hat er.

In seinem Hauptberuf ist Pascal Saugy Anlagebroker. Auf dem Schreibtisch in seinem Büro steht ein Miniaturbulle, das Symbol für steigende Aktienkurse. Aus dem Zimmer mit den Computerbildschirmen heraus spekuliert er mit steigenden und fallenden Devisen, Anleihen und Unternehmenskursen. Pascal zeigt Kurven und Zahlen, spricht von Wahrscheinlichkeiten und mathematischen Modellen. Die Arbeit ist derart kompliziert, dass nur wenige Menschen auf der Welt sich damit beschäftigen. Der ideale Ausgleich zu der oftmals eintönigen und einfachen Tätigkeit eines Crowdworkers. In gewisser Weise jedoch ähnelt der Aktienhandel den Jobs, die auf Plattformen angeboten werden. In beiden Bereichen müssen Menschen bereit sein, als Selbstständige Risiken einzu­gehen. Wie Broker konkurrieren auch Crowd­arbeiter in vielen Bereichen auf anonymen Märkten mit Menschen aus der ganzen Welt.

„Freiheit“, sagt Pascal, „ist ein Wert für sich.“ Für ihn ist es der wichtigste Grund, warum er als Broker und Crowd­worker arbeitet. Er findet es wichtig, nur das zu machen, was ihm Spaß bereitet und wovon er überzeugt ist.
Crowd­arbeiter sind ganz normale Typen

„In Unternehmen werden die fest angestellten Mitarbeiter oft nicht für ihre Leistung bezahlt, sondern dafür, wie viel Zeit sie bei der Arbeit verbringen“, sagt Pascal Saugy. Wer sich anstrengt und schnell Ergebnisse liefert, werde benachteiligt. Das findet er nicht gerecht. Auf Plattformen hingegen gibt es zwar viele Jobs, die schlecht bezahlen sind. „Aber niemand wird gezwungen, die Aufgaben zu erledigen.“

Auf lange Sicht werden die Unternehmen die Missstände auf Plattformen beseitigen, glaubt er. Auch Firmen sind auf zufriedene Mitarbeiter angewiesen. Wie lange das wohl dauert, weiß er auch nicht. Wichtig sei, dass die Arbeiter miteinander und mit den Auftraggebern sprechen.

Das macht Pascal nicht nur über das Netz. Manchmal trifft er andere Crowd­arbeiter auch außerhalb der virtuellen Chaträume. Einmal waren sie auf Einladung eines App-Anbieters zum Grillen. Die Firma wollte wissen, welche Personen sich hinter der Crowd befinden. „Es war seltsam, die Stimmen der anderen zu hören“, sagt Pascal. Menschen, mit denen er viele Stunden geschrieben hat, standen plötzlich vor ihm. Ganz normale Typen. Familienväter, Studenten, Rentner.

Zwei waren dabei, die nur von den Klickarbeiten lebten. „Man hat schnell gemerkt, dass sie es nicht einfach haben“, sagt Pascal. Er überlegt kurz, fährt sich mit der Hand durch die Haare und sagt: „In deren Haut stecken möchte ich nicht.“

Erschienen in der Stuttgarter Zeitung

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